„Querdenker“ lassen Masken fallen, Polizeiführung versagt

Panne mit Ansage

Samstag, 20. März 2021 in Kassel.

Beim Frühstück gab es nur eine dunkle Ahnung dass es ein denkwürdiger Tag wird.
Seit Anfang der Woche ist klar, dass die „Querdenker“-Bewegung in unserer Stadt demonstrieren will. Die Stadtverwaltung wollte die Demo verbieten, war an diesem Morgen aber auch in zweiter Instanz vor Gericht gescheitert.
Allerdings, das Gericht hatte hohe Auflagen für die Veranstaltung ins Urteil geschrieben. Schnell wird klar, dass die „Querdenker“-Organisatoren einfach weiter machen. Das konnte man öffentlich in diversen Chatgruppen nachlesen. Schon seit Wochen war bei anderen Demonstrationen zu sehen, dass bei den Corona-Leugner*innen eine zunehmende Radikalisierung im Gange war. Leipzig und Dresden waren eine deutliche Warnung.

Die örtliche Presse berichtet am Samstag morgen über die Hintergründe, am Ende des Artikels wird eine anreisende Teilnehmerin zitiert: „Geht mit einem Baby auf dem Arm in die erste Reihe wenn wir die Polizeikette stürmen. Sowas bringt Klicks, wenn die Polizei eine Frau mit Baby schlägt.“
Bis dahin hatte ich immer noch gedacht, dass Corona so viele Menschen benachteiligt und einige dabei auf merkwürdige Gedanken kommen. Nach diesem Satz wollte ich es genauer wissen. Ich war noch nie so nah an Menschen, die jegliche wissenschaftliche Erkenntnis verneinen, die Regeln, mit denen sie sich selbst und ihre Mitmenschen schützen sollen einfach ignorieren. Und es waren sicher um die 20.000 solcher querdenkenden Menschen, die nach Kassel kamen. Das Denken suche ich allerdings seit dieser Begegnung verzweifelt.
Was dann passierte, macht mich immer noch wütend. Schon Mittags war klar, dass die „Querdenker-Organisatoren“ mit einer Art Guerilla-Taktik die Polizei überrumpelt hatte.
Die Auflage, nur auf der Schwanenwiese zu demonstrieren, haben sie eingehalten. Aber das war ein Scheinmanöver. Denn gleichzeitig marschierten mindestens 3, eher 4 weitere große Gruppen auf verschiedenen Wegen in die Innenstadt. Abstand halten, Maske tragen? Nein, das haben sie einfach verweigert. Eine Gegendemonstration mit ca. 5.000 Teilnehmer*innen hielt sich an die Regeln, die Polizei sorgte für Abstand zwischen den beiden Gruppen.
Der Versuch der Polizei, die Regelverweigerer in Richtung Demonstrationsplatz abzudrängen, scheiterte schnell. Dabei wurde klar, dass viel zu wenig Einsatzkräfte vor Ort waren. Die Anwesenden versuchten sich in Deeskalation, was aber nur teilweise gelang. An verschiedenen Stellen kam es zu tätlichen Angriffen auf Polizist*innen und Journalist*innen, die Polizei setzte Pfefferspray, Gummiknüppel und auf der Fuldabrücke auch Wasserwerfer ein. Erst gegen Abend trafen weitere Polizist*innen zur Verstärkung ein und konnten dem Spuk ein Ende machen.

Dieser Tag liefert jedoch ausser schrecklichen Bildern vor allem wichtige Erkenntnisse:

  1. Die Corona Leugner haben es geschafft, ihr Potenzial an Menschen für Kassel zu mobilisieren. Ausgerechnet in der Stadt, die in den letzten Jahren mehrfach eindrucksvoll gegen Rechts aufgestanden ist und sich für eine sozialere Gesellschaft stark macht.
  2. Sie haben an diesem Tag endgültig die Masken fallen lassen. Mit dieser Aktion haben sie gezeigt, warum Reichsbürger, Identitäre und Teile der AfD so gern bei ihren Demos mitmarschieren. Sie lehnen den demokratischen Staat ab, sie missbrauchen die Grundrechte um ihre eigenen Regeln durchzusetzen, gemeinsam bilden sie einen Regeln und Gesetze ignorierenden Mob, der von einigen Wenigen im Hintergrund radikalisiert und angeleitet wird.
  3. Viele unter ihnen haben mehr als deutlich gezeigt, wes Geistes Kind sie sind. Judensterne mit der Aufschrift „Impfopfer“, rote Naziarmbinden mit dem Coronasymbol, Reichskriegsflaggen, die Behauptung von der Corona-Diktatur, alles da. Spätestens nach diesem Auftritt muss uns allen klar sein, dass es hier nicht um berechtigte Zweifel an Coronaauflagen geht. Hier ist ein rechter Mob unterwegs
  4. Am schwersten wiegt die Erkenntnis, dass die hessische Polizeiführung erneut bei einer rechtsradikalen Aktion komplett versagt hat. Die Einsatzleitung vor Ort wurde im Regen stehen gelassen. Innenminister Beuth duckt sich wie gewohnt weg und will erst mal nichts dazu sagen. Erneut wird klar, dass die hessische Polizeiführung eindeutig ein Problem mit rechtsradikalen Vorgängen hat.
    Seit Jahren wird in diesem Bundesland die Strafverfolgung von Nazi-Straftaten nicht mit dem nötigen Ernst verfolgt. Der sogenannte NSU ermordet in Kassel Halit Yozkat, im Raum nebenan sitzt ein Informant des Landesverfassungsschutzes. Der hört und sieht aber nichts, die Akten dazu wollte Innenminister Beuth für sagenhafte 70 Jahre sperren. Seit zwei Jahren werden Menschen in Hessen per E-Mail von einem ominösen „NSU 2.0“ bedroht. Eine Aufklärung ist bisher angeblich nicht gelungen.
  5. Nun also die Corona Leugner in Hessen. Da posiert eine Polizistin mit einer Maskenverweigerin Arm in Arm und formt lächelnd mit beiden Händen ein Herz. Bilder von solchen Sympathiebekundungen konnte man auf allen Kanälen sehen.
  6. Im Zusammenhang mit den Versuchen, das Corona-Virus einzudämmen wird nicht nur an diesem Tag ein weitgehendes Politikversagen deutlich. Es reicht eben nicht, die seit dem Jahr 1400 bekannten Pandemieregeln wie Quarantäne anzuwenden. Wir brauchen Ideen, Visionen und klare Vorschläge, wie wir in Zukunft mit Covid-19 leben können. Es braucht dazu auch bundeseinheitliche Regeln, an die sich alle halten müssen. Davon sind alle verantwortlichen Parteien in Landes- und Bundesregierung meilenweit entfernt.

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